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Weilheim – Am Anfang war ein Acker und ein Deutscher Meister. Als Torstangen nahmen sie Rucksäcke. Ein paar Burschen, elf, zwölf Jahre alt, ein Rugby-Ei und Martin Zink. Und schon ging es los. Die Geschichte des Weilheimer Rugbys ist seine eigene. Mit Pforzheim war Zink früher Deutscher Meister, spielte beinahe zwei Jahrzehnte in der Bundesliga. Heute wohnt er in Huglfing – und dort auf einem Feld begann das große Abenteuer. „Ich hab’ zu meinem Sohn gesagt: Wenn du ein paar Freunde findest, dann mach‘ ich am Sonntag von 10 bis 12 Uhr was.“ Tatsächlich standen beim ersten Mal gleich acht Jungs vor der Tür. Nach einigen Wochen waren’s über 20 – und der Acker war zu klein geworden. Fünf Jahre später spielt sein Sohn in München für den RFC, den Rugby Football Club, Erste Liga in der Jugend und in Weilheim trainieren Woche für Woche 80 Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Dieser Ballon hat sich so schnell aufgeblasen, dass sie sich als nächstes Ziel die 100 Mitglieder gesetzt haben.
Besuch am Zotzenmühlweg. Die Rugby-Tore, 6,50 Meter hoch, sieht man vom Parkplatz aus. Im Vereinsheim treffen sich Oldies des SVL Weilheim auf ein paar Bier. Auf einem Feld üben die Fußballminis des TSV. Die Szenerie hat etwas Metaphorisches. Als Rugby-Abteilung leben sie hier eingebettet in eine Gesellschaft, die vom Fußball koloriert wird. Unter Rugby-Spielern gibt es die witzige Sentenz: „Fußball ist ein Spiel für Gentlemen, gespielt von Hooligans. Rugby ein Spiel für Hooligans, gespielt von Gentlemen.“ Diesem Sport, an einem englischen Eliteinternat erfunden, ist ein Wertekanon innewohnend, den sie hier am Zotzenmühlweg, wo am Wochenende B-Klassen-Fußball zu sehen ist, schon den Kleinsten anerziehen.
Lukas Wende, der Abteilungsleiter, trainiert die Rugby-Zwerge in der U6 und U8. Er sagt: „Die Werte stehen über allem. Rugby ist eine Lebensphilosophie, der Sport ist zweitrangig.“ Respekt, Zusammenhalt, Anstand, Leidenschaft, auf diesen Steinen bauen sie ihr Training auf. Als sich einer seiner begabten Jungs mit Leichtigkeit durch die Reihen schlängelt, den Ball im gegnerischen Feld ablegt und kapriziös zurückstolziert, ermahnt ihn Lukas Wende. Noch einmal so ein Anfall von Arroganz bedeutet Aussetzen. Sie müssen die Grenzen früh lernen. Der Lohn für derlei konsequente Erziehung wird bei den Spieltagen sichtbar. Eltern schätzen das familiäre Umfeld. Kürzlich beim ersten Turnier der Saison kamen 500 Menschen zusammen, ohne Zwischenrufe, ohne Meckern, ohne Vorfälle. Man erzähle das mal einem Jugendtrainer im Fußball. Nach Spielen der Erwachsenen ist es Usus, vom Gastgeber zum Essen eingeladen zu werden. Die All Blacks, die legendäre Nationalmannschaft Neuseelands, reinigen bei großen Turnieren ihre Kabine selbst.
Rugby ist „Schlacht der Gentlemen“
Was sich dafür auf dem Feld abspielt, nannte die Süddeutsche Zeitung einmal die „Schlacht der Gentlemen“, also eine Rauferei mit Regeln. Warum gerade so viele Kinder in Weilheim Rugby spielen, will man von Lukas Wende wissen. „Weil es hat, was die anderen Mannschaftssportarten nicht haben: diesen Kontakt.“ Schon die Zwerge lernen essenzielle Bewegungsmuster. Rangeln, drücken, schieben, halten, fallen, stürzen, aufstehen, ausweichen. Für den Körper, das bestätigt die Wissenschaft, ist das nur gut – und ein Höllenspaß obendrein.
Chinesische Mauer nennt sich eines der Spiele, bei dem sie das Raufen lernen. Während sich eine Gruppe in Liegestütz-Lage über den Rasen schiebt, versuchen die anderen ihn umzuschubsen. Um einen Tank wie Martin Zink zu Fall zu bringen, braucht es schon eine Horde an 13-, 14-Jährigen. Man erinnert sich zwangsläufig an diese AT-AT-Läufer aus Star Wars, die von einer kleinen Gruppe Rebellen gestürzt werden, als Martin Zink auf dem Boden aufschlägt. Die Kleinen feiern, der Große lacht. „Ich kann die Kinder anzünden“, sagt der frühere Spitzenspieler.
Viele, die am Anfang kamen, blieben wegen ihm. Mittlerweile besuchen er und die Kollegen alle Schulen in Weilheim regelmäßig. Er sagt dann stets zu einem Kind den einen Satz, der das Eis bricht: „Du kannst etwas, was er nicht kann, und er kann etwas, das sie nicht kann. Aber zusammen seid ihr stark.“ Rugby, sagt Martin Zink, sei wie die Gesellschaft: „Jeder hat seinen Platz, jeder seinen Wert.“ Auf dem Feld können sie alle gebrauchen, Kleine, Flinke, Große, Breite, Schwere. Und das stimmt auch. Im Angriff versucht man oft, eine Schwachstelle in die Reihe des Gegners zu reißen, einen massiven Angreifer gegen einen schmächtigen Verteidiger zu bringen oder einen schnellen gegen einen langsamen.
Als sie vor fünf Jahren erstmals mit einem Jugendteam starteten, überraschten sie sich selbst. Ungeschlagen wurden sie Bayerischer Meister. Einige dieser Burschen spielen heute via Kooperation in München. Am stärksten sind die Weilheimer im U8- und U10-Bereich. Das ist kein Zufall. Während viele andere Klubs den Erwachsenenbereich priorisieren, fließen beim TSV sämtliche Ressourcen in die Jugend. „Unsere Trainer würden lieber zum Jugendturnier fahren, als selbst zu spielen“, sagt Lukas Wende, seit dem Frühjahr Abteilungsleiter. Er lernte Rugby in Berlin, war U18-Nationalspieler und wohnt nun der Liebe wegen in Schondorf. Auf der Suche nach einem Klub entschied er sich für Weilheim. „Ich dachte mir, hier kann ich mich mehr einbringen, mehr selbst gestalten.“
Fokus liegt auf der Jugend
Die Idee mit dem Fokus auf der Jugend kommt von Martin Zink und Max Sonntag. Die beiden Rugby-Enthusiasten lernten sich über Umwege ganz zufällig im Fitnessstudio kennen, rollten das Projekt im Markt aus. Sonntag spielte schon in der Schulzeit in Ettal Rugby, intensivierte das später während des Studiums, lief für die österreichische Nationalmannschaft auf. Heute betreibt er seine Zahnarzt-Praxis in Bad Kohlgrub und betreut die Senioren. Was keine schlechte Kombination ist. Vor dem Trainingsstart schreit er: „Mundschutz rein. Soll mir auch recht sein, wenn einer keinen hat. Morgen früh hab‘ ich noch Termine frei.“
Zweimal die Woche treffen sie sich. Die Jüngsten sind 15 Jahre alt, der Älteste Ende 40, Männer und Frauen gleichermaßen. Wenn das so weiterwächst, haben sie bald genügend für eine eigene Mannschaft zusammen. „Ich sage: Wir spielen irgendwann Bundesliga“, betont Zink. Das sind natürlich große Tone, aber der Mann ist eben ein Optimist. Lukas Wende wäre schon zufrieden, wenn sie ein Team in die Regionalliga bringen. Um regelmäßig anzutreten, brauche es eigentlich einen Kader von 30 Spielern. Etwa die Hälfte haben sie derzeit. Er wünscht sich für die nächsten Jahre Teams in allen Altersklassen, die in der Spitzen mithalten können, auch mal zu einer Deutschen Meisterschaft fahren. Der Rest erwächst von alleine. Denn so exponiert Weilheim als einziger Standort des Oberlands liegt: Die Realität lässt sich nicht verdrehen. Zum Studium zieht es die jungen Menschen fort – oder wie es Max Sonntag ausdrückt: „Wir füttern die großen Klubs.“ Das ist freilich nicht weiter schlimm, weil die Buben und Mädchen bis dahin – im besten Fall – die beste Zeit ihres Lebens hatten.
ANDREAS MAYR