Am Beginn des Turnens und der Turnbewegung in Deutschland steht der ehemalige Hilfslehrer Friedrich Ludwig Jahn (1778 - 1852), der vor und während der sog. Befreiungskriege (1813/14) auf der bekannten Berliner Hasenheide vor allem Schüler und Studenten zu körperlichen Übungen anleitete. Dazu gründete er nicht nur in Berlin eine 'Turngesellschaft', sondern initiierte auch in etwas 150 Orten im damaligen Deutschen Bund Turnvereine vornehmlich im Norden Deutschlands. Im ländlich geprägten Bayern gab es damals noch keine vereinsmäßig organisierten Turner. Jahn verfolgte mit dem Turnen weitergehende Tendenzen: Neben seinen pädagogisch-sportlichen Zielen wollte der 'Turnvater' die zahlreichen Jugendlichen vormilitärisch für einen Krieg rüsten (für den Befreiungskampf gegen Napoleon, der ja Preußen besetzt hielt) und im nationaldeutschen Sinne prägen. Mit dem Sieg über Napoleon durch die vereinigten europäischen Kräfte stießen seine Absichten aber bei den alten Mächten, den Fürsten des inzwischen geschlossenen - lockeren - Deutschen Bundes, auf immer stärkere Skepsis, zumal sich auch einzelne Turnvereine durch offensichtliche liberale Forderungen (z.B. nach Grundrechten und politischer Teilhabe) hervortaten. So erließ Preußen im Zuge der allgemeinen Restauration ab 1819/20 eine 'Turnsperre', d.h. ein Verbot aller Turnvereine, das bis zu Beginn der 1840er Jahre seine Gültigkeit behalten sollte. Bayern bildete insofern eine Ausnahme unter den deutschen Staaten, als hier in München 1828 unter Ludwig I. der Jahn-Schüler Hans Ferdinand Maßmann eine 'königliche öffentliche Turnanstalt' aufbaute, die sich allerdings auf das praktische Turnen in Zusammenarbeit mit den Schulen beschränkte.
Die Turnbewegung erlebte in den 1840er Jahren ihre zweite Entwicklungsphase, in der auch in Bayern erste Turnvereine entstanden, so im rheinbayerischen Speyer, in Nürnberg (jeweils 1846) und ein Jahr später in Augsburg und Weilheim. Mit dem Ausbruch der Revolution im März 1848 gründeten sich im Zuge der allgemeinen Vereins- und Parteibewegung weitere Turnvereine mit dem Schwerpunkt in den sog. neubayerischen Gebieten, also der Rheinpfalz, Franken und Schwaben. Häufig forderten die Turner die Bewaffnung ihrer Riegen, um damit den Gemeinden in den unruhigen Revolutionsmonaten bei der Aufrechterhaltung der örtlichen 'Ruhe und Ordnung' zu helfen, aber auch, um in manchen Fällen revolutionäre Volksheere zu bilden.
Besonders in der bayerischen Pfalz sollten Turner in der Reichsverfassungskampagne (Mai/Juni 1849) zusammen mit anderen demokratischen Gruppierungen für die revolutionären Errungenschaften mit Waffengewalt gegen die regulären monarchischen Truppen kämpfen; in Franken und im Allgäu kam nur das rechtzeitig gerufene bayerische Militär Aufstandsversuchen der vereinigten Turn-, Arbeiter- und Demokratenvereine zuvor. Ebenfalls scheiterten in den Jahren 1848 / 49 die Versuche, einen deutschen Turnverband zu begründen, da man uneinig war, ob sich die Turnvereine nur auf die körperliche Ertüchtigung konzentrieren oder auch politische Forderungen vertreten sollten. Die in einem fränkischen Turnerbund vereinigten Turnvereine Nordbayerns tendierten dabei häufig wie die pfälzischen zur politischen Variante, während die bis 1849 einzigen oberbayerischen Vereine in München und Weilheim das politische Treiben mißtrauisch beäugten, da sie darin "nur zu deutlich das Gepräge eines politischen communistischen und socialistischen Strebens" sahen - so ein Brief der Weilheimer Turner an die Freunde in München 1849.
Da nicht überall in Bayern ein so starkes Traditionsbewußtsein Forderungen nach Reform der Monarchie verhinderte, ging die bayerische Regierung nach Revolutionsende entschlossen gegen die liberale und nationale Bewegung zu Werke. Für die Turnvereine wurde dabei das 'Gesetz vom 26.Februar 1850, die Versammlungen und Vereine betreffend' entscheidend, da es das Recht auf Vereinsbildung strikt einschränkte.
Besonders solchen, die sich mit "öffentlichen Angelegenheiten" beschäftigen - uns das konnte sehr viel bedeuten - drohte bei Verstößen sie sofortige Auflösung. Und so geschah es auch : Nach einer Phase der Beobachtung wurden aufgrund des Vereinsgesetzes die Turnvereine zu den politischen Vereinen gerechnet und vielfach im Sommer 1850 aufgelöst. Man verdächtigte sie der demokratischen Bestrebungen und der geheimen Verbindung, was für die pfälzischen und teilweise fränkischen Vereine ja in der Revolution zum Teil seine Berechtigung gehabt hatte. Doch auch die nicht politisch aktiven Vereine in München und Weilheim mußten ihren Betrieb schließen. Endgültig verfügte der bayerische Innenminister Graf Reigersberg am 25.November 1853 ein Verbot der verbliebenen Turnvereine in Bayern; nur der Turnverein Augsburg konnte aufgrund der Protektion des Bürgermeisters und der schwäbischen Kreisregierung weiterexistieren.
Die Wende vom reaktionären System zu einer liberalen 'Neuen Ära' trat in Bayern wie im gesamten Deutschen Bund um das Jahr 1859 ein. Nach einem Wahlerfolg der Liberalen bei den Landtagswahlen Ende 1858 wollte der bayerische König Max II. endlich "Frieden haben mit seinem Volk". Zugleich hatte der Krieg Österreichs gegen Italien, das bei seiner nationalen Einigung von Frankreich gestützt worden war, zu einem Aufwallen der nationalen Gefühle in ganz Deutschland geführt. Nachdem die bayerische Regierung das Vereinsrecht liberaler handhabte, lebten neben den Vereinen der Schützen und Sänger auch die der Turner wieder auf. seit 1859 wuchs ihre Zahl in Bayern sprunghaft von sieben auf 194 im Jahre 1863 an. Schwerpunkte bildeten dabei wieder die neubayerischen Gebiete, doch auch in Oberbayern kam es nun zu einer größeren Tahl von Gründungen, bei denen wie Weilheim seit 1862 oft dieselben Männer wie 1848 / 49 an der Spitze standen.
Bereits 1861 schlossen die meisten bayerischen Turnvereine einen"Bayerischen Turnerbund". Aufgrund der Erfahrung der Verbotszeit und der weiter wachsamen Kontrolle der bayerischen Behörde verzichtete man nun auf liberale oder demokratische Forderungen. Doch bekannten sich die Turner weiterhin zu ihrem Wunschziel eines einigen Deutschlands, da ihnen dies nicht als 'Politik' galt. Vor allem die großen nationalen Turnfeste in Coburg (1860), Berlin (1861) und Leipzig (1863) ließen mit national-deutschen Bekenntnissen in Liedern und Festreden aufhorchen. Anders als 1848 / 49 waren die deutschen Einzelstaaten nun bereit, die nationalen Aufrufe tolerieren, vorausgesetzt sie hielten sich in gewissen Grenzen. Auch die bayerischen Turnfeste Landtagsabgeordneten der Fortschrittspartei Dr. Völk beim bayerischen Turnfest 1865 bezeugt :
"Erwarten wir nicht vielmehr eine Aufrichtung in unserem Gemüth, eine Stärkung unserer patriotischen Gedanken, eine Kräftigung in der Gemeinsamkeit? und sind wir nicht deßwegen mit zusammengekommen, um uns aufzurichten in dieser gemeinsamen Liebe zum großen, zum herrlichen Vaterlande? (...) Nur allein, verehrte Freunde, wenn wir es durch Mühe und Anstrengung dahin gebracht haben werden, geachtet unter den Nationen zu stehen, nur dann allein wird der Einzelne groß und geachtet stehen, und trage Jeder, sey er jung oder alt, die Kräfte seines Geistes und Körpers dazu bei, ..." (Bundesblätter 1865 / Nr.8 / 9, S.63)
In dieser Festrede wird das Doppelgesicht des Nationalismus im 19.Jahrhundert deutlich: Oft untrennbar verbunden mit der an sich liberalen Forderung nach einem deutschen Nationalstaat war die Hoffnung auf ein machtvolles, ein starkes Deutschland, das etwas in Europa gelten sollte. Diese Außenorientierung des Nationalismus sollte sich nach der Reichsgründung noch weiter verstärken. Zunächst machte sich aber Ende der 1860er Jahre ein allgemeines Abflauen der Euphorie und des Mitgliederwachstums der Turnvereine bemerkbar, da in den sog. Einigungskriegen deutlich wurde, daß die Entscheidung über eine nationale Einigung in den Händen der deutschen Regierungen, und nicht in denen der nationalen Bewegung lag. Immerhin wurde aber in dieser Krisenzeit der nationale Verband, die "Deutsche Turnerschaft" (1868) gegründet, der auch der Weilheimer Turnverein angehörte.
Sicherlich darf man in diesen Jahren nicht die politische Seite der Turnvereine einseitig überbetonen, da vieles bei ihnen vage und unverbindlich blieb. Wichtiger für die Mitglieder war vielleicht die gesellige Funktion der Vereine, schließlich verbrachte man meist zwei- bis dreimal in der Woche den Feierabend zusammen auf dem Turnplatz und diskutierte anschließend in der Stammwirtschaft lautstark örtliche Probleme. Da die frühen Parteien noch keine lokalen Organisationen aufgebaut hatten, trugen in Kleinstädten wie Weilheim die Turnvereine auch so zu einer Politisierung der Bevölkerung bei. Wer turnte damals überhaupt? Bei den aktiven Mitgliedern stellten meist Handwerker, Handlungsgehilfen und ältere Schüler die Mehrheit der Vereinsmitglieder. Als passive 'Turnfreunde' beteiligten sich an den Turnvereinen neben Handwerkern auch Lehrer, Gastwirte und kleinere Beamten. Frauen hatte damals nichts in den Turnvereinen zu suchen, da diese sich als"Männerbünde" verstanden und einer vormilitärischen Körperertüchtigung dienen sollten. Erst um 1900 wurden häufiger Frauenturnabteilungen eröffnet oder Damenturnvereine begründet.
Mit dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 / 71 zeichnete sich wieder ein neuer Aufschwung in der Turnbewegung ab. Begeistert zogen auch die bayerischen Turner gegen den Feind ins Feld, organisierten die daheimgebliebenen Mitglieder Sanitätskolonnen, feierte man 1871 gemeinsam den Sieg der deuschen Truppen:
"Was die Turner erstrebten in jugendlicher Begeisterung in jenen Jahren, in denen Turnvereine als staatsgefährlich betrachtet wurden, das ist durch die Macht der Ereignisse, durch blutigen, aber gemeinsamen Kampf aller deutschen Stämme errungen worden: Deutschland ist kein geographischer Begriff mehr, das deutsche Volk ist eine Natuon geworden!" (Bundesblätter 1871 /Nr. 1, S. 1)
Mit diesen Worten begrüßte der Vorsitzende des "Bayerischen Turnerbundes", der Hofer Buchhändler Rudolf Lion (1834-1893) die Gründung des deutschen Reiches 1871, obwohl der Staat nicht durch das Volk begründet worden war, sondern durch die Staats- und Kriegskunst von Bismack und Moltke. Immerhin hatte man in den Armeen mitgekämpft und so seinen Beitrag geleistet. Außerdem erkannte nun die Regierung in Bayern endgültig die Vorzüge des Turnens für die Wehrertüchtigung und sorgte in der Zukunft verstärkt für die Einrichtung des Schulturnunterrichts.
Die Turner schlossen nach 1871 ihren Frieden mit dem Staat, Forderungen nach liberalen oder demokratischen Reformen waren völlig in Vergessenheit geraten. Sie galten nun als unvereinbar mit dem Turnen, da man ja nicht 'politisch' sein wollte. Doch hinderte dies die bayerischen und deutschen Turnvereine nicht daran, bei ihren verschiedenen Turnfesten das neue deutsche Reich, den Kaiser und die Regierung als nationale Errungenschaften zu verherrlichen und 'Reichsfeinde' wie die Sozialdemokratie zu verdammen. In Altbayern stand die Begeisterung für das deutsche Reich allerdings in einem etwas zwiespältigen Verhältnis zur bayerischen Tradition: Die Anhänglichkeit des Oberlandes an das bayerische Königshaus blieb offensichtlich so, wenn man stets als erstes auf den bayerischen König bzw. ab 1886 auf den Prinzregenten toastete.
Landespatriotimus und Reichsnationalismus standen zeitweise in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, ließen sich aber auch wieder gut verbinden, indem man einfach auf beide Monarchen prostete.
Bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges sollten sich in der bayerischen und deutschen Turnbewegung die nationalistischen Tendenzen weiter radikalisieren, die sich zunehmend gegen alle 'Feinde' Deutschlands wie die slawischen Völker oder Frankreich richteten. Die Verschiebung des nationalen Gedankengutes der Turner seit der 48er Revolution wurde endgültig offensichtlich. Und in dieser Hinsicht bildeten die bayerischen Turnvereine insgesamt ein Spiegelbild der Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
Stefan Illig, September 1996